Briefe aus Brooklyn 5

Wie findet man besondere Orte, die nicht auf den alltäglichen Wegen liegen?

Für Brooklyn hilft da zum Beispiel Curbed NY, vor allem deren Facebook-Account, auf dem immer wieder spannende Kurzvideos auftauchen. So einem Video habe ich eine tolle Führung durch „King’s Theater“ zu verdanken, das vor einigen Jahren mit sehr großem Aufwand instand gesetzt wurde und nun als Konzertbühne das kulturelle Leben in Flatbush bereichert. Der Kurzfilm war so beeindruckend, dass ich das neue alte Theater unbedingt in echt sehen wollte. Großzügig übersehen muss man bei Curbed NY nur die Berichte über Nobel-Immobilien, die so weit entfernt von der durchschnittlichen Wohnsituation erscheinen wie der Mars. Ebenfalls hilfreich ist auch Time Out – sowohl das Gratis-Heft als auch deren Online-Präsenz.

Irgendwo dort muss ich zum ersten Mal diese verlockende Bücherwand voller Skizzenbücher gesehen haben und stellte es mir annähernd paradiesisch vor, dort zu stehen und zu stöbern und wer weiß was für spannende Dinge zu sehen zu bekommen. Die Fahrt ging nach Williamsburg – in die sogenannte Hipster-Neighborhood, in der zwar äußerlich noch Einiges rau aussieht, aber die Innenräume und deren Angebot sehr verfeinert und für hohe Ansprüche gemacht sind. Um es mal ganz unzulässig grob zusammenzufassen.

Eine unscheinbare Glastür trägt das Open-Schild und wir betreten die „Sketchbook-Library“. Die Bücherei besteht aus einem großen, lang gestreckten Raum, der von Regalen gesäumt wird. Eine junge Frau an einer kleinen Rezeption erklärt den neuen Besucher*innen das Prozedere. Leider darf man nicht einfach so etwas aus den Regalen ziehen – zu leicht würde bei den über 36.000 Skizzenbüchern, die hier beheimatet sind, Durcheinander entstehen. Es gibt ein Tablet, auf dem man recherchieren kann, was einen interessiert, und man kann sich dann die entsprechenden Büchlein geben lassen.

Große Regalwand mit unzähligen Skizzenbüchern, davor sitzt am Tisch die Verfasserin des Artikels und hält eines der Bücher in der Hand.

Aber etwas für das spontane Entdeckerinnenherz gibt es trotzdem: einen großen Holztisch mit einem Korb voller Büchlein, die man zur Inspiration und um ein Gefühl für das Projekt zu bekommen, einfach so ansehen kann. Dort sitzen schon ein paar Leute. Wir gesellen uns dazu, und gleich das erste Skizzenbuch, das ich aufschlage, entlockt mir ein „Wow“. Es wurde von einer jungen Schwedin erstellt, wie ich dem Text auf der Karteikarte darin entnehme, und sie hat mit allerfeinstem Strich eigenwillige junge Frauen gezeichnet und bildlich festgehalten, was ihrer Meinung nach Frauen an Männern schön finden – originell gemacht. Dann fällt mir noch ein Skizzenbuch in die Hände, das anstelle von Blättern Leinwand enthält und darauf überaus gelungen Gesichter- und Personenskizzen, diesmal von einer Südkoreanerin. Laut der Projektwebsite beteiligten sich schon Menschen aus mehr als 135 Ländern am Projekt.

Aufgeschlagenes Skizzenbuch mit Karteikarte der Bibliothek

Es gibt allein schon in diesem Korb eine kunterbunte Vielfalt an Skizzenbüchern: welche mit Tagebuchtexten, oder Eintrittskarten von einer Reise, es gibt gemalte Selbsterfahrungsberichte oder abstrahierte Bilderfolgen, grafische Experimente, gefällige und borstigere Büchlein. Während ich dort so sitze, wird mir auch klar, dass mich das Projekt selbst mehr fasziniert als dieser Ort, an dem es sich manifestiert. Noch mehr Spaß als Gucken macht Mitmachen!
Dazu braucht man ein Skizzenbuch vom Projekt – alle haben das gleiche Format –, und das kann man sofort erwerben. Zum Abschied halte ich also für 30 Dollar (Teilnahmegebühr) „mein“ Skizzenbuch in der Hand, und nun ist mir ein bisschen mulmig, ob ich es auch so gefüllt bekomme, wie es mir vorschwebt. Gleichzeitig bin ich voller Vorfreude!

Zum Abschluss dieses außergewöhnlichen Ausflugs geht es dann noch in eine Patisserie, die auf dem Weg liegt, Tomoko heißt und französische Tradition mit japanischer Raffinesse verbindet (Beschreibungstext aus einer Besprechung). Ruhig, hell, ausgefeiltes Design, feines Tongeschirr und vor allem hervorragende Desserts mit ausgefallenen Zutaten, allen voran der schwarze Sesam, der hier zu einer aschfarbenen Crème brulée verarbeitet wird. Ich muss unbedingt Sesame-Cookies mitnehmen – nachdem sie vor meinen Augen verpackt werden, schaffe ich es nicht, ohne sie zu gehen. Alle Gäste hier sitzen im Rund, um die Küche herum, und es weht einem dann schon mal aus einem brodelnden Topf verführerischer Erdbeerduft um die Nase.

Verpackung eines Skizzenbuches mit Projektbeschreibung für die TeilnehmendenZu Hause schnüre ich mein kleines Päckchen aus der Skizzenbuch-Bibliothek auf und stelle fest, dass es Projekt-Enddaten gibt, bis zu denen alle ihre aus diesem Abschnitt stammenden Skizzenbücher eingereicht haben sollen, und siehe da: Es ist Ende April. Dann mal los. Der nächste Besuch dort wird also schon der für die Abgabe!
Für alle, die gern mal gucken würden, aber nicht so schnell nach Brooklyn kommen werden: Mehr als die Hälfte der Einreichungen ist digitalisiert, und es gibt auf Instagram das Hashtag #sbpprocess, wo es sich den Künstler*innen über die Schulter schauen lässt – sie posten dort ihre Fortschritte beim Befüllen der Büchlein. Trotzdem: Raschelndes Papier vor Ort und das In-der-Hand-Halten der teilweise in Farbe getränkten Büchlein inklusive Befühlen des Materials sind schon ein besonderer Luxus.

PS: Auch Skizzenbücher machen Urlaub – sie gehen diesen Sommer mit dem Bus auf Reisen und besuchen Toronto, Chicago und Atlanta.

Fotos: rz, sh

Nächster Brief
Vorheriger Brief
Alle Briefe aus Brooklyn